Morgens um sechs von Bullen in Deiner Wohnung geweckt werden – für die Bewohner*innen des selbstverwalteten-Wohnprojekts LU15 in Tübingen wurde dieser Albtraum gleich zweimal in diesem Jahr Realität.
Am 4. Februar 2020 erschraken die Anwohner*innen über das massive Aufgebot der Polizei, die die Straße mit über zehn Einsatzfahrzeugen vollstellten und dann mit 70, größtenteils vermummten und schwerbewaffneten Polizeibeamt*innen in das selbstverwaltete Hausprojekt eindrangen.
Offenbar war auch eine Drohne zum Einsatz gekommen, die das gesamte Gelände überwachte.
Zeitgleich wurde noch eine Privatwohnung durchsucht. Insbesondere in der Lu15 trat die Polizei dabei sehr gewalttätig auf und hielt sich nicht an angeblich geltende Gesetze. Der Durchsuchungsbeschluss wurde erst, nachdem vermummte und bewaffnete Polizist*innen längst im gesamten Haus verteilt waren, und nach mehrmaligem Drängen kurz vorgezeigt. Menschen wurden zu Boden geworfen, es wurden unbefugt Zimmer durchsucht, für die es keinen Beschluss gab, und eine Brandschutztür zerstört, obwohl ein Schlüssel angeboten wurde. Ein Beschlagnahmeprotokoll wurde verweigert, ein Widerspruch nicht protokolliert, die mitgebrachten „neutralen“ Zeug*innen hielten sich außerhalb der durchsuchten Räume auf und schauten weg.
In der Nacht zuvor waren zwei Freund*innen am Landgericht festgenommen worden, unter dem Tatvorwurf einer versuchten (!) Sachbeschädigung (angeblich geplanter Farbanschlag). Was die beiden in den kommenden Stunden erdulden mussten, lässt sich kaum in Worte fassen: Obwohl sie keine Aussage machten, wurden sie stundenlang verhört, von Staatsschutz und Kriminalpolizei. Sie wurden voneinander getrennt und über den Verbleib der anderen Person im Unklaren gelassen. Bei der ärztlichen Prüfung auf Gewahrsamtauglichkeit wurden psychische und physische Beschwerden ignoriert, es wurden verschriebene und notwendige Medikamente verweigert. Eine der Betroffenen musste sich komplett vor Polizisten ausziehen, die einzige Polizistin wurde vorher aus dem Raum geschickt.
In den Verhören wurden beide verbal bedroht und angeschrien, die Polizei versuchte Geständnisse zu erzwingen, da sie sonst die beiden erst in ein paar Wochen dem Haftrichter vorführen würden. Wenn sie nicht kooperierten, würden ihnen alle ungeklärten Sachbeschädigungen und andere Delikte aus den letzten Jahren angelastet, insgesamt 45 Fälle.
Trotz der Bedrohungen, Schikanen und Missachtung ihrer Rechte blieben die beiden bei der Aussageverweigerung. Nach vielen Stunden der Ungewissheit und der polizeilichen Willkür, wurden sie nach den vollzogenen Hausdurchsuchungen endlich freigelassen.
Man kann die Behandlung als Folter ansehen, auf die entsprechenden Details wird hier aber zum Schutz der Betroffenen nicht weiter eingegangen.
Die Polizeiaktion war ein massiver Angriff auf linke Strukturen, unter Missachtung der Dienstvorschriften und Gesetze.
Nach spontaner Demo am gleichen Tag und einer weiteren Soli-Demo 10 Tage später dementierte die Polizei natürlich die Vorwürfe der Misshandlung und der vielfältigen ungesetzlichen Vorgehensweise. Was war auch anderes zu erwarten?
Derzeit ist es noch zu keinem Prozess gekommen und die Betroffenen versuchen, die Zeit zu nutzen, um sich von den Erlebnissen zu erholen und die zu erwartenden Repressionskosten und laufenden Verfahren zu bewältigen.
Doch die Traumatisierung geht weiter: Am 2. Juli 2020 um 6 Uhr morgens folgte eine erneute Hausdurchsuchung in der Lu15. Wieder war massives Polizeiaufgebot zu beobachten, eine Wohnungstür wurde mit dem Rammbock aufgebrochen und zerstört.
Auch wenn die Cops diesmal nach den vielen Beschwerden zur Razzia im Februar keine anderen WGs im Haus aufsuchten, drangen sie trotzdem in die Zimmer von Mitbewohner*innen ein, für die kein Durchsuchungsbeschluss vorlag. Diesen Personen wurde keine Begründung gegeben und der Durchsuchungsbeschluss nicht vorgelegt, so dass sie möglichst lange im Unklaren über die Razzia gelassen wurden.
Die erneute Durchsuchung fand zeitgleich zu Wohnungsdurchsuchungen in Stuttgart, Ludwigsburg, Remseck, Fellbach, Waiblingen und Karlsruhe statt. Der Anlass war eine Fahndung im Zusammenhang mit einem Tatvorwurf in Bad Cannstatt im Mai, bei der ein Mitglied des „Zentrum Automobil“ – einer ultrarechten Pseudogewerkschaft – schwer verletzt wurde.
Das Pikante an der Sache: Die Person, gegen die sich der Durchsuchungsbeschluss richtete, war an besagtem Tag gar nicht in Bad Cannstatt, vielmehr musste der Polizei sogar Bildmaterial von der Teilnahme an einer Demo an einem ganz anderen Ort vorliegen.
Trotzdem wurde das Zimmer durchsucht und vor allem Datenträger und Handy beschlagnahmt, nicht jedoch die auf dem Durchsuchungsbeschluss aufgeführten angeblichen Beweis-Kleidungsstücke. Trotzdem bestand die Polizei auf die Abgabe einer DNA Probe und der Fingerabdrücke, die sie durch Gewahrsamnahme und erzwungene Maßnahmen schließlich erhielten.
Dass ein Richter einen Beschluss unterschreibt, der auf so offenbar haltlosen Vorwürfen beruht, wäre schon ein Skandal für sich. Eine ganz andere Sichtweise ergibt sich aber aus der Tatsache, dass die beschuldigte Person Mitarbeiter eines Bundestagsabgeordneten ist und – Corona-bedingt – Laptop und Diensthandy bei sich hatte. Beides wurde von der Polizei beschlagnahmt, obwohl ihnen diese Tatsache bekannt gemacht wurde. Gegen dieses Vorgehen erhob auch der Abgeordnete umgehend Beschwerde, was die Polizei aber nicht hinderte, die Ermittlungen weiterzuführen.
Möglicherweise ist die Recherchetätigkeit des Abgeordneten und seines Mitarbeiters zu rechten Netzwerken in Militär und Sicherheitsbehörden sowie zu Rüstungsthemen für den Staat Anlass genug gewesen, die Durchsuchung irgendwie zu begründen. Vermutlich ging es also gar nicht um die oben erwähnte Körperverletzung, sondern um eine Gelegenheit, Strukturen, Rechercheergebnisse und Namen zu erfahren.
Die umgehend erfolgte Aufforderung, die Ermittlungen einzustellen, da offenbar die durchsuchte Person gar nicht vor Ort war, wurde zunächst ignoriert, ja gipfelte sogar in einem Erpressungsversuch: Solange eine Beschwerde wegen der Illegalität der Durchsuchung von Seiten der Betroffenen im Raum stehe, werde man die Ermittlungen nicht einstellen.
Erst nachdem Anwälte sich der Sache angenommen haben, wurde die Ermittlung von Seiten der Polizei beendet. Welche der bei der Durchsuchung gewonnenen Erkenntnisse oder Kopien von Datenträgern letzten Endes aber doch bei der Polizei verwendet oder aufbewahrt werden, lässt sich nur vermuten. Die gleiche Frage stellt sich zu den Fingerabdrücken und der erzwungenen DNA-Probe, die nun eigentlich gelöscht werden müsste. Dass der Staat sich mal wieder nicht an seine eigenen Regeln hält, hinterlässt erneut einen bitteren Nachgeschmack.
Die von den weiteren Durchsuchungen Betroffenen sind allerdings nach wie vor der Repression unmittelbar ausgesetzt: Seit den Durchsuchungen sitzt der Antifaschist Jo in Stammheim in Untersuchungshaft. Ihm wird versuchter Totschlag vorgeworfen, und weiteren von der Durchsuchung Betroffenen Landfriedensbruch. Ob und wie weit ebenso haltlose Vermutungen zu den Durchsuchungen führten, ist dabei auch pure Spekulation. In jedem Fall ist die Solidarität mit den Betroffenen notwendig und alle Spaltungsversuche müssen wir ins Leere laufen lassen. Natürlich kann es zu verschiedenen Aktionsformen im Kampf gegen Rechts unterschiedliche Meinungen und Sichtweisen geben, das ist völlig legitim und Diskussionen sind unabdingbar. In Zeiten einer immer weiter voranschreitenden Rechtsentwicklung der Gesellschaft ist es nur folgerichtig, dass Menschen antifaschistisch aktiv sind und den Nazis entgegentreten. Dies kann auf vielen verschiedenen Ebenen geschehen, sei es mit Blockaden, Gegenprotesten, Mahnwachen oder auch ganz direkt durch körperliche Konfrontation. Denn bei „Zentrum Automobil“ handelt es sich um keine Gewerkschaft, sondern um einen faschistischen Verein. Ihr Gründer und Vorsitzender, Oliver Hilburger, komponierte mit seiner Nazi-Band „Noie Werte“ den Soundtrack für das NSU-Bekennervideo, das in Nazikreisen herumging, lange bevor die breite Öffentlichkeit etwas von der Existenz des NSU erfuhr. Seine Verbindungen sowohl in das direkte NSU-Umfeld als auch zum mittlerweile verbotenen, militanten Nazinetzwerk Blood & Honor sind umfangreich und lange bekannt. Demnach geht es nicht um „Linke gegen Gewerkschaften“, sondern um eine Auseinandersetzung zwischen Antifaschist*innen und Freund*innen von Naziterrorist*innen.
Im Juli 2016 wurden das Wohnprojekt Lu15 und ein weiteres Mietshäusersyndikats-Projekt von der Polizei einer heimlichen, fast vierwöchigen Videoüberwachung unterzogen. Diese Überwachung war allerdings rechtswidrig. Dies hat das Landgericht Tübingen am 11. März 2020 in zweiter Instanz entschieden und damit einen vorhergehenden Beschluss des Amtsgerichtes aufgehoben. Geklagt hatten dagegen Betroffene aus einem der Projekte. Die Videoüberwachung wurde von der Staatsanwaltschaft Tübingen im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens gegen unbekannt im Zusammenhang mit zwei Brandstiftungen an Autos eigenmächtig angeordnet, ohne – wie rechtlich vorgesehen – eine richterliche Erlaubnis einzuholen. Offiziell informiert – wie es rechtlich vorgesehen ist – wurden die Betroffenen auch nie.
In der Gesamtbetrachtung der Vorfälle zeichnet sich ab, dass Polizei und Staatsanwaltschaft gegen linke Strukturen vorgehen und dabei die eigenen rechtlichen Restriktionen immer wieder ignorieren, denn auch wenn am Ende die Illegalität gerichtlich festgestellt oder Ermittlungen eingestellt werden, so passiert den Verantwortlichen nie etwas. Es gibt keine Konsequenzen, keine Rücktritte, keine Haftungen für Polizist*innen, Haft- und Untersuchungs-Richter*innen und Staatsanwaltschaft.
Die illegal gewonnenen Erkenntnisse, Einblicke, die Einschüchterungsversuche, hohe Repressionskosten und die Wut im Bauch gegen diesen Staat und seine Polizei bleiben aber. Es ist zu erkennen, dass die Polizeidirektion Reutlingen die Lu15 als linksextrem und gewaltbereit einschätzt und das medial auch so darstellt. Die Razzien stellen einen massiven Angriff auf Aktivist*innen und Strukturen dar. Getroffen hat es einige Einzelne, aber gemeint sind wir alle!
Doch unsere Solidarität wächst mit jedem neuen Angriff. Zeigt Eure Solidarität wo immer ihr könnt, gegen Repression, gemeinsam gegen Staat und Polizei. Und speziell in Zeiten von fehlenden Soli-Veranstaltungen ist auch eine Beteiligung an den Repressionskosten erwünscht. Ihr findet Spendenmöglichkeiten auf den Seiten der Roten Hilfe Stuttgart sowie dem ABC Südwest (siehe Links).
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